
Anti-WTO-Demonstranten fliehen vor Tränengas, Seattle, 1. Dezember 1999; Kim Stallknecht/AFP via Getty Images.
Krise der Kritik? Kapitalismus, Neoliberalismus und Demokratie „nach dem Boom“
Seit den 1970er Jahren ist das Verhältnis zwischen Markt und Staat neu geordnet worden. Ganz gleich, ob man diesen Wandel als Durchsetzung einer „zweiten Moderne“ oder eines neuartigen „Kulturkapitalismus“ beschreibt – immer steht die Ideenwelt des Neoliberalismus im Mittelpunkt. Deren Anziehungskraft ist noch nicht hinreichend erklärt, indem man einzig auf die zeitgenössische Plausibilität als Problemlösung schaut oder auf ihre Verfechter und Lobbyisten. Der Ausgangspunkt des Forschungsprogramms besteht darin, auch die potentiellen Gegner des Neoliberalismus zu betrachten und ihre relative Schwäche zu erklären.
Das Projekt fragt nach der Kapitalismuskritik in den 1980er und 1990er Jahren und untersucht, ob es sich um einen Formwandel oder um eine Krise der Kritik handelte. In dieser Übergangsphase wurden Struktur-, Macht- und Verteilungsfragen, so die Annahme, von Themen wie Menschenrechte, Verbraucher- und Umweltschutz abgelöst; identitätspolitische Fragen gewannen an Gewicht, während die (neo-)marxistische Kritik erodierte. Begleitet wurde dies von einem Aufstieg der Neuen Sozialen Bewegungen. Der politische Umbruch von 1989/90 beschleunigte diese Prozesse, weil sich der Westen nun als Sieger eines Systemwettstreits verstand. Aber auch auf der Linken sah man ein Zeitalter ohne Utopie heraufziehen. Diese Epoche endete erst mit dem Erstarken der globalisierungskritischen Bewegung im letzten Drittel der 1990er Jahre.
„Krise der Kritik?“ ist ein geschichtswissenschaftlicher Projektverbund am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Derzeit umfasst er fünf unterschiedliche Vorhaben rund um das Heisenberg-Projekt von Tim Schanetzky. Ihre thematische Bandbreite reicht von der Geschichte der Fernsehkritik (Felix Dümcke) über die Wohnungspolitik (Flemming Falz) und die Geschichte der Geschichtsschreibung (Jonas Schmidt) bis hin zur aktivistischen Instrumentalisierung von Hauptversammlungen.